Hebammenmangel in Deutschland

Dieser Artikel erschien am 03.04.2018 bei SPIEGEL, ist jedoch aktueller denn je. Ganz im Gegenteil, die Hebammen-Situation verschlimmert sich von Monat zu Monat. (Link zum Originalartikel) Die Menschen können klatschen und unsere Politiker können Versprechungen abgeben, die Situation ändert das jedoch nicht.

In Deutschland werden wieder mehr Kinder geboren. Doch viele Schwangere und junge Mütter finden keine Hebammen. Geburtsstationen müssen schließen, Geburtshelfer klagen über unhaltbare Zustände. Eine gefährliche Entwicklung.

Julia Kerner sitzt im Auto, als die Presswehen beginnen. Außer ihrem Freund ist niemand da, der ihr jetzt beistehen könnte. Der jungen Frau bleibt nichts anderes übrig, als ihr Kind allein auf die Welt zu bringen – ohne die Hilfe einer Hebamme, ohne die Hilfe eines Arztes. „Ich konnte gerade noch meine Jogginghose und meine Unterwäsche runterziehen“, sagt sie.

Zuvor war sie in einem Krankenhaus von einer Ärztin weggeschickt worden, weil alle Kreißsäle belegt waren. Das Kind werde schon nicht in den nächsten 20 Minuten kommen, hatte die Ärztin gesagt – dabei war Kerners Fruchtblase geplatzt und der Muttermund bereits einige Zentimeter geöffnet. Ihr Freund fährt sie im eigenen Auto zu einem anderen, zwölf Kilometer entfernten Krankenhaus. Dort angekommen, schaffen es die beiden nicht rechtzeitig in den Kreißsaal. Kerner bekommt ihre Tochter auf dem Krankenhausparkplatz.

Die 35-Jährige musste im vergangenen Sommer am eigenen Leib erfahren, wovor der Deutsche Hebammenverband und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) schon seit Jahren warnen: eine Verschlechterung der Geburtshilfe in Deutschland. Ärzte und Hebammen sind maßlos überlastet. Es gibt zu wenig Geburtshelfer, zu wenig Geburtskliniken, zu wenig Kreißsäle.

Die Elterninitiative Mother Hood sprach im vergangenen Jahr sogar eine Reisewarnung für Schwangere aus. Für Frauen, die ein Kind erwarten, sei es äußerst unsicher, nach Bayern, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Hamburg, Sylt, Föhr und Fehmarn zu reisen. Dort könne keine sichere Geburt gewährleistet werden. Der Deutsche Hebammenverband informiert auf einer Karte , in welchen Regionen Hebammen fehlen und wo Kreißsäle geschlossen worden sind.

Demnach mussten seit 2015 bereits mehr als 50 Kreißsäle in Deutschland schließen, weil es an Hebammen mangelt oder weil sich Geburten für Kliniken finanziell nicht mehr lohnen. Fallen Kreißsäle auf dem Land weg, verschärft das nicht nur dort die Situation. Die werdenden Eltern müssen auf die Städte ausweichen, wo Ärzte und Hebammen ohnehin mitunter heillos überlastet sind. Silvia Kiel arbeitet als Hebamme in München und sagt, die Stadt stehe kurz vor dem Kollaps, weil die Geburtenzahlen seit Jahren steigen. „Wir brauchen mehr Hebammen, aber auch mehr Versorgungsplätze für Schwangere.“

Wurden im Jahr 2011 laut Statistischem Bundesamt etwa 663.000 Babys in Deutschland geboren, waren es fünf Jahre später bereits 792.000. Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der Hebammen, die in Krankenhäusern arbeiten, zwar um 800 auf etwa 9300 angestiegen, allerdings arbeiten von ihnen knapp drei Viertel in Teilzeit. Auch von den mehr als 13.000 freiberuflichen Hebammen arbeiten viele in Teilzeit. Hinzu kommen Hebammen, die sowohl angestellt als auch freiberuflich arbeiten.

Silvia Kiel, alleinerziehende Mutter zweier Kinder, sagt: „Wer als Hebamme Kinder hat, kann kaum zu 100 Prozent arbeiten, weil sich Zwölf-Stunden-Dienste zu jeder Tageszeit, an Wochenenden und Feiertagen nicht mit der Kinderbetreuung vereinbaren lassen.“ Vor allem im Sommer und im Dezember kämen die Kliniken an ihre Grenzen, sagt Kiel. In diesen Zeiten müssten viele Hebammen notgedrungen Urlaub machen, weil Kitas und Schulen geschlossen hätten. Dass noch nichts Schlimmes passiert sei, grenze an ein Wunder. „München ist eine der reichsten Städte der Welt, aber im vergangenen Sommer hatten wir kaum Zeit, die Schränke mit Medikamenten aufzufüllen. Die Hebammen mussten vier bis fünf Frauen gleichzeitig betreuen.“

Doch nicht nur bei der Geburtshilfe, auch bei der Vor- und Nachsorge herrscht ein enormer Hebammenmangel. Frauen müssen sich mittlerweile schon unmittelbar nach dem positiven Schwangerschaftstest um eine Hebamme kümmern, die sie zu Hause betreut. Wer das nicht weiß, hat oft das Nachsehen. So ging es auch Katharina Windisch aus Hamburg. Sie suchte erst im sechsten Schwangerschaftsmonat nach einer Hebamme, fand allerdings niemanden mehr.

Stillen lernen mit YouTube-Videos

„Ich habe Annoncen geschaltet, Hebammen gegoogelt, angerufen, angeschrieben. Aber niemand konnte mir helfen.“ Und obwohl sie von der Geburt noch geschwächt war, musste sie immer wieder ins Krankenhaus zurückkehren, weil sie Probleme mit dem Stillen hatte. Doch dort hätten die Hebammen auch kaum Zeit für sie gehabt. Erst sechs Wochen nach der Geburt fand die 35-Jährige eine Hebamme, die ihr weiterhelfen konnte. Bis dahin versuchte sie, sich das Stillen mit YouTube-Videos beizubringen.

Auch die Mütter selbst verschärfen den Hebammenmangel, weil sie mehr Leistungen einfordern. Laut des Spitzenverbands der Krankenkassen (GKV) sind die Leistungen der Hebammen in den Jahren 2008 bis 2016 um 60 Prozent gestiegen. Statt sechs Besuchen statten Hebammen den Müttern mittlerweile etwa zwölf Besuche nach der Geburt ab. Denn in einer Zeit, in der junge Eltern in den Städten fernab der eigenen Familien wohnen, sind sie mehr und mehr auf fremde Hilfe angewiesen.

Dieses Problem haben inzwischen auch private Anbieter erkannt. Unternehmen wie Maternita in Berlin unterstützen Schwangere und junge Mütter, indem sie für sie Hebammen, Gynäkologen, Kinderärzte oder auch Baby-Fotografen suchen. Sie helfen ihnen mit Eltern- und Kindergeldanträgen. Das kostet natürlich, 85 Euro zahlen Eltern bei Maternita allein für die Suche nach einer Hebamme, wird eine erfolgreich vermittelt, kommen 50 Euro Erfolgsprämie hinzu. Call a Midwife, ebenfalls aus Berlin, verlangt für drei Monate Standby-Rufbereitschaft 139 Euro.

 

 

„In unserem Beruf findet ein Generationswechsel statt“

Christiane Bossong arbeitet seit 30 Jahren als Hebamme in Idstein im Rheingau-Taunus-Kreis. Sie weiß, wie sich die Arbeitsbedingungen verändert haben. „Immer weniger Frauen bewerben sich für eine Hebammenausbildung, weil die Arbeitsbedingungen so schlecht geworden sind“, sagt sie. „In unserem Beruf findet ein Generationswechsel statt. Viele Hebammen sind nicht mehr bereit, sich in hohem Maße selbstlos einzusetzen. Die Work-Life-Balance ist ihnen wichtiger.“ Aber vor allem die steigende Haftpflichtversicherung für freiberufliche Hebammen würde viele abschrecken.

Lag die Haftpflichtversicherung für Hebammen, die Geburtshilfe leisten, im Jahr 2007 noch bei etwa 1600 Euro pro Jahr, kostet sie inzwischen 7639 Euro – also knapp fünfmal so viel. Allerdings hat die Politik bereits darauf reagiert: Seit mehr als zwei Jahren gibt es den sogenannten Sicherstellungszuschlag. Mit diesem Haftpflichtausgleich beteiligen sich die Krankenkassen an einem Großteil der Kosten für freiberufliche Hebammen – bis zu einer maximalen Höhe von 5547 Euro.

Der Sicherstellungszuschlag sei eine große Hilfe, sagt Bossong, allerdings müssten die Hebammen meist in Vorkasse gehen. „Manche Kolleginnen warten ein halbes Jahr auf ihr Geld.“ Um den Zuschlag zu bekommen, müssten sie außerdem genau nachweisen, wie sie arbeiten, sich fortbilden und wie zufrieden ihre Kundinnen sind. „Für viele Hebammen, die noch eine Teilzeitstelle in einer Klinik haben, ist die Freiberuflichkeit zu aufwendig und lohnt sich daher nicht.“

Überhaupt sei der Verdienst viel zu gering. Wie viel freiberufliche Hebammen verdienen, hängt vor allem davon ab, wie viele Frauen sie betreuen. Für eine telefonische Beratung können sie derzeit laut des GKV-Vergütungsverzeichnisses acht Euro abrechnen, für ein Vorgespräch über die Schwangerschaft und Geburt erhalten sie 44,60 Euro. Für die Geburtshilfe in einem Krankenhaus als Dienst-Beleghebamme gibt es 165,60 Euro. Und bei einer Hausgeburt bekommen sie bis zu 789,89 Euro. Die Honorare sind zwar zum Beginn dieses Jahres um 17 Prozent angestiegen. Doch für viele Hebammen ist das zu wenig. Auch die Elterninitiative Mother Hood fordert eine bessere Vergütung, etwa für natürliche Geburten. Außerdem müsse es eine kontinuierliche Eins-zu-eins-Betreuung durch eine Bezugshebamme geben.

Seit diesem Jahr dürfen freiberufliche Beleghebammen in der Regel nur noch zwei Frauen gleichzeitig bei der Geburt betreuen – und ihre Leistungen dafür abrechnen. Der Gedanke dahinter sei gut, sagt Hebamme Silvia Kiel, so soll eine Eins-zu-zwei-Betreuung etabliert werden. Doch die Praxis sehe anders aus. „Wenn eine Frau vor mir steht, der schon das Blut an den Beinen runterläuft, dann kann ich sie nicht wegschicken, das ist unterlassene Hilfeleistung. Ich behandele sie selbstverständlich, bekomme aber kein Geld dafür und mache mich sogar strafbar, wenn ich sie länger als eine Stunde betreue und meine Leistung bei der Krankenkasse einreiche.“

2700 Euro brutto im Monat

Doch wie sieht es bei festangestellten Hebammen aus? „Sie verdienen mit 2700 Euro brutto im Monat viel zu wenig“, sagt Birgit Seelbach-Göbel, Präsidentin der DGGG. Sie müssten mehr Geld bekommen, ihre Arbeitsbedingungen müssten verbessert werden. Astrid Giesen, die Vorsitzende des bayerischen Hebammenverbandes, fordert mehr Anerkennung und Wertschätzung für die Hebammen. Dies könnte etwa erreicht werden, indem alle Hebammen einen Hochschulabschluss in ihrem Fach machen würden.

Auch im neuen Koalitionsvertrag haben sich die Parteien darauf geeinigt, die Hebammenausbildung als akademischen Beruf umzusetzen. Darin steht außerdem, „zu einer flächendeckenden Versorgung gehören für uns (…) eine wohnortnahe Geburtshilfe, Hebammen und Apotheken vor Ort.“

Die wohnortnahe Geburtshilfe hat zumindest Julia Kerner, die ihr Kind auf dem Parkplatz bekommen musste, nichts gebracht. Das Krankenhaus, in das sie geschickt worden war, liegt in einem anderen Stadtteil. Dennoch hatte Kerner Glück im Unglück. Als sie ihr Kind gerade geboren hatte, kam zufällig eine Hebamme vorbei, die Dienstschluss hatte. Sie betreute Kerner und das Neugeborene, solange sich ihr Freund um Hilfe kümmerte.

Im Kreißsaal holten die Ärzte die Nachgeburt und nähten Kerners Risse. Für eine Betäubung blieb keine Zeit. Doch Mutter und Kind waren in Sicherheit. Gegen das Krankenhaus, das sie abwies, haben Julia Kerner und ihr Freund Strafanzeige wegen unterlassener Hilfeleistung gestellt – diese wurde allerdings vom Staat nicht weiter verfolgt, weil die Ärztin die Situation zwar falsch eingeschätzt haben mag, man aber nicht von unterlassener Hilfe ausgehen kann. Zivilrechtlich sind die Eltern nicht gegen das Krankenhaus vorgegangen. Den Blumenstrauß, den sie zur Entschuldigung bekommen haben, nahmen sie nicht an. „Das ist zwar eine nette Geste“, sagt Julia Kerner, „aber die traumatische Erfahrung kann ein Blumenstrauß nicht aufwiegen“.



Zusammenfassung:
Die Geburtshilfe in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren verschlechtert. Es mangelt an Hebammen, es gibt zu wenig Kreißsäle – und das bei einer steigenden Geburtenzahl.
Insgesamt hat die Zahl der Hebammen zwar zugenommen, viele von ihnen arbeiten allerdings nur in Teilzeit. Um die Geburtshilfe zu verbessern, fordern Verbände bessere Arbeitsbedingungen für die Hebammen, mehr Gehalt und mehr Anerkennung.

Dieser Artikel erschien am 03.04.2018 bei SPIEGEL von der Autorin: Kristin Haug

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